Eine Reflexion über vergangene und gegenwärtige forstwirtschaftliche Praktiken im Tatra-Gebirge – Teil 1

Wälder sind essentiell für viele Ökosystemleistungen und Lebensraum für viele Arten. Außerdem absorbieren sie große Mengen an vom Menschen verursachten Kohlenstoffemissionen und sind daher besonders wichtig für die Mitigation des Klimawandels. Trotz der Bedeutung der Wälder nimmt der Abholzungsdruck in Europa kontinuierlich zu. Alarmierende Meldungen, dass die europäischen Wälder unter extremem Druck stehen, kommen aus verschiedensten Ecken Europas. Fast täglich bekommt man Berichte zu hören, dass irgendwo in Europa Wälder absterben oder abgeholzt werden. Der erste Auslöser, der dazu führt, ist meist ein großflächiger Windstoß, ein Feuer oder ausgiebiger Schneefall, der scheinbar gesunde Wälder gefährdet. Glücklicherweise verstehen aber immer mehr Menschen, dass die Wälder Europas unter extremem Druck stehen.

Die Wahrheit ist jedoch, dass die Wälder bereits seit mindestens vier bis fünf Jahrhunderten unter dem Einfluss des Menschen leiden. In einigen Teilen Europas, wie zum Beispiel im Mittelmeerraum, besteht dieser Druck sogar noch länger. Der Grund, warum der Mensch die Wälder systematisch an den Rand des Aussterbens treibt, liegt nicht nur darin, dass sie eine wertvolle Ressource, nämlich Holz, liefern, sondern ist auch seit jehermit der Geschichte des Menschen verbunden.

Eine persönliche Geschichte

Als ich jung war, betrachtete ich den Wald rund um meine Stadt als ein Stück wildes Land. Das änderte sich dramatisch, nachdem mein Urgroßvater, ein Förster, mir eine Geschichte erzählte. Er sagte mir, dass der Wald rund um meine Stadt früher viel wilder war und dass seit der Besiedlung der Gegend durch den Menschen Urwälder abgeholzt wurden, so dass nur in abgelegenen Ecken kleine Fragmente überlebt haben. Später lernte ich die wirkliche Bedeutung dieser Geschichten. Ich erfuhr am eigenen Leib, dass die Wälder rund um meine Stadt, in der Region, in der ganzen Slowakei und sogar in den Karpaten in den letzten Jahrhunderten stark ausgebeutet und beschädigt wurden.

Die Gründe dafür scheinen einfach zu sein: Holz dient dazu Häuser zu bauen und sie zu mit Holzkohle zu heizen, und die dadurch entstanden Flächen können genutzt werden um Gemüse anzubauen, Weiden für Nutztiere bereitzustellen, oder Mineralien abzubauen.

Fallstudie: grasen von Nutztieren in Wäldern hat negative Folgen

Weidetiere sind seit den Anfängen europäischer Siedlungen in den Bergen ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebensunterhalts. Rinder, Pferde, Schafe und Ziegen streiften früher auf der Suche nach Nahrung frei umher, auch im Wald. 

Für Weidetiere sind Wälder eine reiche Nahrungsquelle. Interessanterweise erhöht sich das Nahrungsangebot in Wäldern durch bestimmte Waldbewirtschaftungsmethoden wie Durchforstung, Entfernung von Totholz und Holzernte erheblich. Durch das Entfernen von Bäumen und damit des Kronendachs kann mehr Licht den Waldboden erreichen. Diese neuen Bedingungen schaffen eine günstige Umgebung für Unterholzpflanzen wie Blumen und Sträucher, die eine gute Nahrungsquellen für Weidetiere darstellen. Nach langjähriger Forschung weiß man heute jedoch, dass die Beweidung im Wald negative Auswirkungen auf das Ökosystem hat.

Beweidung im Tatra-Nationalpark

Um die Auswirkungen der Beweidung auf die Wälder zu veranschaulichen, können wir einen Blick auf eine sehr interessante Fallstudie im Tatra-Nationalpark in der Slowakei werfen. Die Berge, die seit dem Zweiten Weltkrieg als Nationalpark geschützt sind, wurden über Jahrhunderte intensiv beweidet. Die ersten dokumentierten Anzeichen von Beweidung in diesem Gebiet stammen aus dem 16. Jahrhundert, aber erst im 18. Jahrhundert nahm der Druck auf den Wald enorm zu. 

Mit der Gründung mehrerer verstreuter Siedlungen rund um die Berge wurden auch Nutztierherden eingeführt und zunächst wahllos, später dann systematisch um die Dörfer herum getrieben. Aber allmählich, als der Waldum die Dörfer immer fragmentierter, abgeholzt und schließlich verbrannt wurde, beanspruchten die Herden zunehmend die Ausläufer und später die Hänge des zentralen Teils der Tatra berge. Schließlich streiften die Weidetiere frei in den Wäldern umher, die bereits durch Abholzung und Bergbau stark beeinträchtigt waren.

Der zweite Eingriff durch Beweidung in diesem Gebiet wurde von oben nach unten ausgeführt: von den Almwiesen bis hinunter zur Baumgrenze und tief in den Bergwald hinein. Vallachische Hirten besetzten mit ihren Herden Sommer für Sommer die alpine Zone und weideten zunächst die natürlichen Almwiesen oberhalb der Baumgrenze und später auch die vom Menschen geschaffenen Weiden intensiv ab. Darüber hinaus war es eine gängige Praxis die Baumgrenze aus Latschenkiefer und Fichten zu verbrennen und tausende Bäume zu fällen um ihre saisonalen Siedlungen, die entlang der Baumgrenze und in der Nähe der Wasserquelle lagen, zu bauen. 

Diese jahrhundertelangen Aktivitäten schädigten die Baumgrenze dramatisch. Im Durchschnitt sank die Baumgrenze um 150-200 m, an manchen Stellen sogar bis zu 300 m. Infolgedessen verschwanden die Zwergkiefern mit Fichtenwald in einigen Teilen vollständig, was zu einer Störung des Wasserhaushalts führte. Ohne Bäume, die den Boden schützen, erodierte das abfließende Wasser stark und beschädigte die Hänge, vor allem die steilen, und transportierte Tonnen von Erde und Steinen ins Tal. Eine weitere Folge der Waldrodung war die Bildung von Schneelawinen und die Zunahme von Überschwemmungen, die zu einer ernsthaften Bedrohung für die Täler wurden, in denen sich viele Siedlungen befanden. Die Menschen in der Region lernten und lernen auch heute noch schmerzhafte Lektionen über die Auswirkungen der unkontrollierten Beweidung. Obwohl 70 Jahre vergangen sind, seit die meisten Beweidungsaktivitäten im Tatra-Gebirge eingestellt wurden, sind die Folgen bis heute sichtbar.

Die Gründung des Tatra-Nationalparks

„Weidehaltung von Haustieren gehört nicht in den Wald“, war die grundlegende Forderung bei der Gründung des Tatra-Nationalparks. Ein engagiertes Team von Naturschützern (ein bedeutender Teil davon Förster) hat von Anfang an strikt darauf gepocht. In diesem Zusammenhang wurde das Landeigentum zu einer wesentlichen Angelegenheit der Parkvorbereitung. Auf beiden Seiten (Slowakei und Polen) des Tatragebirges wurde ein umfangreicher und geldintensiver Prozess zur Beseitigung der jahrhundertelangen häuslichen Beweidung eingeleitet.

Während einiger Jahrzehnte (zwischen den Weltkriegen) wurden Tausende und Abertausende von Hektar von den Regierungen aufgekauft und in die Verantwortung der staatlichen Forstwirtschaft übergeben. Obwohl der Zweite Weltkrieg diesen Prozess erheblich unterbrochen hat, hat die folgende kommunistische Revolution auf beiden Seiten der Grenze eine Dynamik geschaffen, als der grenzüberschreitende Park allmählich geschaffen wurde.

Nach der Verstaatlichung des Landes (1947) war der Landbesitz kein so heißes Thema mehr. Dennoch erhielten die Landbesitzer (lokale Gemeinden und Einzelpersonen) eine Entschädigung oder die Möglichkeit, das Land außerhalb der Parkgrenzen zu beweiden. Später setzte sich die Landverstaatlichung durch und die Entschädigung wurde eingestellt.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Landverstaatlichung ein grundlegender erster Schritt war, der zur Schaffung von Nationalparks ohne künstliche Beweidung führte. In den folgenden Jahrzehnten wurde ein umfangreiches, in den gesamten Karpaten einzigartiges Waldbewirtschaftungsprojekt entwickelt und umgesetzt, um einen Wiederherstellungsprozess des Waldes durchzuführen. Besonderes Augenmerk wurde auf die Wiederherstellung der stark geschädigten Baumgrenze gelegt, wo jährlich Hunderte von Hektar wiederhergestellt wurden. Die Flächen wurden mit den einheimischen Baumarten wie Latschenkiefer, Zirbelkiefer, Fichte, aber auch mit Weide und Erle aufgeforstet, was die Erholung der Baumgrenze deutlich beschleunigte.

Allmählich begannen sich die in den vergangenen Jahrhunderten intensiv beweideten Flächen zu regenerieren und der Wald erlangte einen Teil seiner natürlichen Struktur zurück. Dank dieses Projekts wurde der Park zu einem Lernraum im Freien, nicht nur für Förster, sondern auch für die breite Öffentlichkeit, darunter auch Ausländer. Die Gebiete, die im vorigen Jahrhundert nicht unter der Weidenutzung litten, weil sie entweder zu abgelegen waren oder in steilen Hängen lagen, sind nun Gegenstand intensiver Forschung und Überwachung. Auch heute noch bieten diese Gebiete hervorragende Anschauungsmöglichkeiten, da sie zeigen, wie der Wald ohne äußere Einflüsse aussehen würde. So sind sie zu einem grundlegenden Element der Wiederherstellung von Bergwäldern in der gesamten Slowakei und den Karpaten geworden.

Dieser Artikel wurde von Vlado Vancura, Forstwirtschaft und Wilderness Experte, auf Englisch verfasst und vom Projekt Team ins Deutsche übersetzt.

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